Geschichte
|
Fortsetzung Julia Kristeva Die bulgarische Linguistin und Philosophin Julia Kristeva steht genauso wie Irigaray in der Tradition von Lacan und betrachtet das weibliche Subjekt vor allem aus psychologischer Sicht. Es wird geprägt durch den Begriff des Semiotischen. Kristeva hat ihn in Abgrenzung zu Lacans Begriff der symbolischen Ordnung gestellt, der stellvertretend für die patriarchale Gesellschaft steht. Das Symbolische gibt Verhaltensnormen, Sprachmuster und Rollenverteilungen vor, die das Gerüst der patriarchalen Gesellschaft darstellen. In der kindlichen Entwicklung wird die symbolische Ebene dann erreicht, wenn die vorsymbolische oder ödipale Phase abgeschlossen ist. Den Übergang markiert das Spiegelstadium; Lacan versteht darunter den Prozess der Trennung vom mütterlichen Leib und die Befreiung aus der ödipalen Phase. Erreicht das Kind die symbolische Ordnung, findet es eine bestehende Struktur vor, in die es sich integrieren muss. Signifikant für Lacans Haltung Frauen gegenüber ist, dass diese nach seiner Meinung die Ebene des Symbolischen nicht erreichen können. Sie bleiben störende Außenseiterinnen, da sie die ödipale Phase, also die völlige Loslösung von der Mutter, nie wirklich abschließen. Im Gegensatz zu Irigaray, die diese Teilung kritisiert und den Frauen eine andere, weibliche Form des Symbolischen eröffnet, akzeptiert Kristeva sie. Ihr Umdenken findet auf einer anderen Ebene statt: sie fragt nämlich, ob es überhaupt erstrebenswert ist, in die symbolische Ordnung aufgenommen zu werden. Kristeva übernimmt also die Teilung in vorsymbolisch, weiblich und semiotisch bzw. symbolisch und männlich. Aber in ihren Analysen stellt sie die Bedeutung des Semiotischen heraus. Es ist hier nicht mehr ein Schritt auf dem Weg zum Ziel (Symbolisches), sondern selbst ein Ziel. Der Begriff »semiotisch« stammt aus dem Griechischen und bedeutet Unterscheidungsmerkmal, Spur, Beweis oder Zeichen. Kristeva definiert das Semiotische als Mittel, Phantasien und Wünsche wiederzugeben, die außerhalb der Grenzen des patriarchalen Systems liegen. Es ist der plötzliche Ausdruck des Leiblichen in der Sprache, durch die das Unbewusste sichtbar werden kann. Das Semiotische steht für Assoziation und Verschmelzung und für den spielerischen Umgang mit optischen und akustischen Eindrücken. Durch die Verbindung mit dem Weiblichen und Mütterlichen bezieht Kristeva damit auch die biologischen Eigenschaften mit ein. Die Trennung von Leib und Seele ist passee, es geht um einen ganzheitlichen Ansatz. Kristeva stellt die These auf, dass die semiotischen Artikulationen über den biologischen Code transportiert werden. Sie sind somit als Grundlage der Sprache, der Sinngebung und ebenso der symbolischen Ordnung zu verstehen. Das Semiotische kennzeichnet Kristeva als verdrängte, unbewusste Sprache, die sie auch mit dem Begriff Chora umschreibt. Die Chora wird aus dem Griechischen mit Raum oder Unterleib übersetzt. Im philosophischen Zusammenhang taucht die Chora bei Platon auf und gilt als etwas Unnennbares, Unerfahrbares und Flüssiges, das dem Einen, dem Vater vorgängig ist. Unter Chora versteht Kristeva die menschlichen Triebe und ihre unbewusste Artikulation, die somit dem Bereich des Semiotischen zugeordnet werden. Sie ist weder ein Zeichen noch eine Position, sondern eine grundsätzliche bewegliche und extrem provisorische Artikulation. Die Chora ist der Ort der Bedeutungen, die nicht auf eine symbolische Ordnung reduziert werden können, deshalb überschreitet sie die rationale Subjektivität. Über die Chora stellt Kristeva die Beziehung zwischen dem Semiotischen und ihrem Subjekt-im-Prozess her. Im Gegensatz zum neutralen rationalen Subjekt der männerdominierten Sprache wird es im Akt der Bedeutungsgebung mit archaischen, instinktiven und mütterlichen Aspekten konfrontiert. Kristeva versteht die Chora auch als pulsierenden Druck auf oder in der symbolischen Sprache. Man kann sich diesen Prozess vorstellen wie eine Eruption, die nach oben drängt. Und ein Ausbruch ist nur in einem Moment möglich, dem Prozess der Bedeutungsgebung. Durch sie tritt der sprechende Mensch in die symbolische Ordnung und deren Definitionsmacht ein, verdrängt aber gleichzeitig auf dem Weg liegende unbewusste Bedeutungen. Durch die Chora entsteht für Kristeva keine neue Sprache, sondern sie steht für die heterogene, gespaltene Dimension der Sprache. Sie versteht die Chora als einheits- und identitätslos, aber trotzdem sei sie bestimmten Regeln unterworfen, die nicht dem Bereich des Symbolischen entstammen. Sie stehe für prä-ödipale semiotische Funktionen. Es sind provisorische Regeln, die auf die Chora einwirken und durch die sich stets neue Artikulationen bilden können. Für Kristeva repräsentiert die Chora auch den Ort der Verneinung, wodurch sie eine Bedrohung für die symbolische Ordnung darstellt. Sie wird am deutlichsten innerhalb von Lyrik, Kunst und Religion. Nach Kristevas Meinung zeigen sich in deren Sprache Aspekte, die nicht dem rationalen Diskurs unterworfen sind. Wichtigste Schauplätze dieser Prozesse seien die kindliche Sprache, die Renaissance-Malerei und die Avantgarde-Literatur.
Dem Semiotischen entgegengesetzt ist das Symbolische, wobei Kristevas Begriff nicht mit Lacans symbolischer Ordnung identisch ist. Ihr gedanklicher Ausgangspunkt ist nämlich nicht das Symbolische, das bei Lacan als wichtigste und erstrebenswerteste Ebene gilt. Kristevas Theorie baut auf dem Semiotischen auf. Es ist für sie die Grundlage der Sprache, der Gesellschaft und damit auch des Symbolischen. Lacan dagegen hat sich auf der männerdominierten rationalen Ebene der symbolischen Ordnung eingerichtet und schaut so von oben auf das Semiotische herab. Bei Kristeva erreicht das Semiotische die sinngebende Praxis, indem es das Symbolische durchläuft. Dabei vollzieht es eine Überschreitung der symbolischen Ordnung, die Kristeva als Explosion des Semiotischen im Symbolischen bezeichnet. Durch sie würden die Verdrängungen und Randbereiche des Symbolischen wieder aktiviert und in den Prozess der Sinngebung integriert. Somit überschreite das Semiotische, das eigentlich als Grundlage des Symbolischen gilt, die symbolische Ordnung. Die Steuerung des Semiotischen innerhalb des Symbolischen erfolgt durch das Thetische, das Kristeva auch als Vermittlung zwischen dem Sozialen und dem Symbolischen kennzeichnet. Das Thetische steht für eine Spaltung des Semiotischen, durch die das Symbolische entstehen kann. Verursacht wird die Spaltung durch den Abschluss der ödipalen Phase und das Spiegelstadium. Durch die Setzung des Thetischen erwirbt das Subjekt die Fähigkeit zur Identifikation und zur Differenzierung. In Kristevas Theorie kann es sich nun selbst als getrennt von seinem Bild und den Objekten wahrnehmen und ist in der Lage, sprachliche Bedeutungen zu schaffen und Urteile zu fällen. Kristeva versteht die Gegenüberstellung von Semiotischem und Symbolischem nicht als Parallele zu den patriarchalen Dualismen wie bewusst/unbewusst oder Kultur/Natur. Sie definiert die semiotische Ebene vielmehr als Bewegung oder Energie, die auch Einfluss auf das Symbolische ausübt. Beide Teile konstituieren den Prozess der Sinngebung, in dessen Mittelpunkt das Subjekt steht. Dieses ist semiotisch und symbolisch zugleich, und genauso ist auch die von ihm erzeugte Sprache beides. Damit bezieht Kristeva, im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse, die vorsymbolische oder semiotische Ebene in den Prozess der Sinngebung ein. Er findet nun im Zusammenspiel von Semiotischem und Symbolischem in der Person des Subjekts statt. Die Sinnbildung wird zu einem subjektiven Prozess. Allerdings wird dieser Prozess niemals vollständig abgeschlossen und das Subjekt kann deshalb nicht zu einer fest definierten Einheit werden. Diese prozesshafte Sinngebung erfordert auch ein entsprechendes Subjekt, Kristeva nennt es Subjekt-im-Prozess. Sie sieht das sprechende Subjekt als gespalten, da es keine Einheit bilden kann, nicht immer bei sich selbst ist und sich nicht völlig kennt. Da ein Subjekt auch über unterschiedliche Wünsche verfügen könne, die nicht unbedingt zusammenpassen, existiere es im Zusammenspiel dieser Unterschiedlichkeiten. Es befinde sich in einem heterogenen Prozess, wodurch es nicht in sich ruhen könne und weder sich selbst noch den anderen transparent werde. Kristeva definiert es als Subjekt-im-Prozess, da es stark auf die dialektische Beziehung zu anderen angewiesen ist. Dieses Subjekt kann sich selbst durch den Einfluss des Semiotischen in Frage stellen und sich von den starren Festlegungen des patriarchal definierten transzendentalen Subjekts befreien. Bedingt durch die Identifikation mit ihrer Vorstellung vom Semiotischen schreibt Kristeva dem sprechenden Subjekt auch die Fähigkeit zur Erneuerung der bestehenden Ordnung zu. Das Semiotische wird nicht mehr vom Symbolischen verdrängt, sondern behauptet sich. Es bringt sich selbst in den Prozess der Sinnbildung ein, durch Störung, Auslassung, Wiederholung und unbestimmte Bedeutungen. Durch das Einfließen des Semiotischen in das Symbolische hat Kristeva zwei Prozesse eingeleitet: Erstens bringt es ein Fließen in die Differenzen, welche die Bedeutung bilden, und verändert die binäre Logik der Metaphysik. Zweitens stört es den Dualismus und die Zwänge des transzendentalen Egos in der Illusion seiner einzigartigen Selbstidentität. Zusammen konzipieren das Semiotische und das Symbolische auch unterschiedliche Diskursformen. Symbolisch geprägt ist der wissenschaftliche Diskurs, der nach dem Status einer Metasprache strebt und versucht, die Komponenten zu reduzieren, die als unsachlich gelten. Den Gegensatz dazu sieht Kristeva in der poetischen Sprache. Sie sei in der Lage, das Symbolische zu stören, zu unterwandern und zu verändern. Bei Kristeva gehört zur poetischen Sprache auch eine weibliche Sprachform, wobei sie den Begriff weiblich nicht nur auf Frauen bezieht, sondern für Autorinnen und Autoren offen hält. Wie Cixous entwickelt Kristeva keine geschlechtsspezifische Differenz im sprachlichen Ausdruck, stellt aber fest, dass es unterschiedliche Themen und Stile im weiblichen Schreiben gibt.
Auszug aus: Die andere Philosophiegeschichte |
Philosophie weiter lesen
ein-FACH-verlag |
|
|
|